Spanien als kulturelle Brücke nach Lateinamerika?

Die gemeinsame Sprache verleitet gerade Spanienkenner häufig dazu, ihre Kommunikationsmuster aus der iberischen Halbinsel 1:1 auf Lateinamerika übertragen zu wollen. Mag sein, dass beim ersten geschäftlichen Treffen alles unkompliziert und tranquilo erscheint. Aber trotz der offenen Art der Lateinamerikaner bestehen beträchtliche Unterschiede in Selbstbild und Kommunikation, die beachtet werden sollten um Irritationen zu vermeiden.

Spaniens umstrittene Präsenz in Lateinamerika

Aus spanischer Sicht ist Lateinamerika kaum Exportmarkt, sondern in erster Linie Investitionsziel. Seit Mitte der 90er Jahre ist Spanien nach den USA zum größten Investor in Lateinamerika aufgestiegen, wobei sich 90 Prozent dieser Investitionen auf vier Länder konzentrieren: Argentinien, Brasilien, Mexiko und Chile.

Diese verstärkte spanische Präsenz entwickelte sich nicht allmählich wie im Falle der USA, sondern in kurzer Zeit und wird seitens der Lateinamerikaner oft als erdrutschartig empfunden. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der ehemaligen Kolonialmacht werden nicht selten als Re-Conquista wahrgenommen und entsprechend kritisch beäugt.

Dies gilt es zu beachten, wenn deutsche Unternehmen Spanien als Brückenkopf für ihre Geschäfte in Lateinamerika nutzen. Ohne Zweifel: Hat man einmal erste Erfahrungen im iberischen Markt gesammelt, gelingt der Sprung auf den südamerikanischen Kontinent in der Praxis häufig leichter. Gleichzeitig verfügen deutsche Firmen in Lateinamerika über ein wichtiges Potenzial, das ihnen oft nicht bewusst ist: die enorm hohe Reputation von Calidad alemana y confianza – deutscher Qualität und Vertrauenswürdigkeit.

Angesehene Deutsche in Geschäfts- und Privatleben

In Lateinamerika herrscht eine – weder von Kolonialvergangenheit noch von Migrationsgegenwart getrübte – positive Meinung gegenüber den Deutschen vor. Dieses Ergebnis repräsentativer Befragungen wie des Latinobarómetro kann durch zahlreiche persönliche Erfahrungen illustriert werden. Deutschland wird zumeist mit hochwertigen technologischen Produkten und Zuverlässigkeit assoziiert und hoch geachtet. Dies ist natürlich besonders in Regionen der Fall, in denen deutsche Unternehmen mit Produktionsstätten vertreten sind und attraktive Arbeitsplätze schaffen.

Einige deutsche Produkte haben in Südamerika geradezu Kultstatus erlangt. Dazu gehören die legendären Vochos, VW-Käfer der alten Baureihe aus den 1960er Jahren, die in Mexiko bis weit in die 90er gefertigt wurden und bis vor kurzem mit ihrer grell grünen Farbe als Taxis das Straßenbild von Mexiko Stadt prägten. Herzliche Sympathiebekundungen sind jedem Reisenden sicher, der dem Taxifahrer offenherzig berichtet, dass er oder sie aus Deutschland kommt (und nicht aus Spanien oder den USA, wie von den Einheimischen meist vermutet wird).

Somit stehen deutschen Geschäftsleuten in Lateinamerika die Türen offen, besonders wenn sie es verstehen, die Sympathie der Latinos zu gewinnen und sich an die landestypischen Kommunikationsstile anzupassen.

Wer Unterschiede respektiert, gewinnt Sympathie

In lateinamerikanischen Unternehmen sind Titel und Status absolute Werte, Hierarchien spielen eine viel größere Rolle als in Spanien. Unter Geschäftspartnern und häufig auch innerhalb der Familien ist die Sie-Anrede Gesetz. Ungewöhnlich für denjenigen, der in Spanien das unkomplizierte „Du“ auch im Unternehmen gewöhnt ist.

Der Umgangston ist deutlich indirekter als in Spanien, was häufig dazu führt, dass Lateinamerikaner von dem als unhöflich empfundenen Kommunikationsstil der Spanier brüskiert sind. Zur südamerikanischen Variante der spanischen Sprache gehören vielfältige Verwendung von Verkleinerungen, ein weicher, melodischer Tonfall sowie ständige Komplimente.

Das Harmoniebestreben ist ebenfalls ausgeprägter als in Spanien. Dies drückt sich durch einen größeren Vertrauensvorschuss, weniger Kontrolle und intensivere Beziehungspflege aus. Wer diese Besonderheiten nicht kennt, kommt unter Umständen zu einer negativen Auslegung des gleichen Verhaltens: Harmoniestreben kann dann beispielweise auch als Konfliktscheue interpretiert werden.

Diese Umgangsformen zu respektieren und die richtigen Personen zu kennen, ist das A und O für erfolgreiche geschäftliche Beziehungen in Lateinamerika. Ungewöhnlich für Deutsche: Es sollte viel Lob ausgeteilt werden, besonders über das Land, denn Lateinamerikaner besitzen einen ausgeprägten National- bzw. Regionalstolz. Dass diese „weichen“ Faktoren sehr konkrete, „harte“ Auswirkungen im Geschäft haben, zeigen immer wieder Beispiele misslungener Geschäftskontakte und fehlgeschlagener Versuche zur Positionierung von Produkten auf dem lateinamerikanischen Markt.

Vertrauensvorschuss für deutsche Unternehmen

Als nach Öffnung des Eisernen Vorhangs alle Welt auf den Osten Europas blickte, sah Spanien die Gunst der Stunde und investierte kräftig in die Märkte Lateinamerikas, die sich gerade im Rahmen einer Privatisierungswelle öffneten. Deutschland verpasste es in dieser Zeit, sich Marktanteile zu sichern. Diese Perspektive änderte sich während der jüngsten Finanzkrise. Die Schwellenländer Lateinamerikas präsentieren sich sehr gut aufgestellt und das Interesse internationaler Unternehmen ist groß.

Es lohnt sich also für deutsche Unternehmen, die traditionell guten Beziehungen zu Lateinamerika auszubauen und dort Präsenz zu zeigen. Aufbauend auf dem guten Ruf als Land und den positiv besetzten Marken, können Mitarbeiter deutscher Firmen daran gehen, die Sympathien in Lateinamerika zu gewinnen. Denn Geschäfte in Lateinamerika werden nicht mit Firmen, sondern in erster Linie mit Menschen gemacht. Wenn deutsche Geschäftsleute die notwendige Geduld und interkulturell geschultes Einfühlungsvermögen mitbringen, gewinnen sie auch gegenüber vielen spanischen Kollegen und Konkurrenten. Eine gezielte Investition in interkulturelle Kompetenz kann helfen, diesen wichtigen Markt zu erschließen.

Autor: Gerado Alfonso Müller Albán – Der interkulturelle Trainer Gerado Alfonso Müller Albán stammt aus Ecuador und spezialisierte sich auf Lateinamerika. Er möchte die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem spanischsprachigen Raum fördern. Sein Fokus in den Seminaren liegt auf interkultureller Kompetenz und er greift auf ein vielseitiges Netzwerk zurück.

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