Es ist ein schöner frostiger Wintertag in Krakau. Ich soll um 9:00 Uhr ein interkulturelles Training für ein polnisch-französisches Team durchführen. Um kurz nach 8:30 Uhr stehe ich am Empfang des Auftraggebers, ein polnisches mittelständisches Unternehmen. Eine junge Mitarbeiterin der Firma begrüßt mich mit einem freundlichen Lächeln und führt mich in den Seminarraum.
Chinesen im polnisch-französischen Seminar
Der Small Talk – eigentlich ein Big Talk – mit dem Projektleiter ist sehr angenehm und nebenbei, während ich die Technik ausprobiere, klärt er kurz mit den Teilnehmenden ein paar Details. „Die Multitasking-Fähigkeit ist etwas Tolles!“, sage ich. „Allerdings besteht immer die Gefahr, dass man die Zeit dabei vergisst,“ ergänzt er. „Sehen Sie, alle sind rechtzeitig da: die Franzosen, die Deutschen, die Chinesen. Nur meine polnischen Mitarbeiter schaffen es nicht rechtzeitig, zwei Stockwerke nach unten zu kommen. Könnten Sie bitte das Thema „Zeit“ während des Seminars ansprechen?“
Dass die Uhren in unterschiedlichen Kulturkreisen anders ticken, erläutere ich in interkulturellen Seminaren immer an Beispielen, die für viel gute Laune sorgen. Allerdings frage ich mich gerade, was die Chinesen und die Deutschen bei dem polnisch-französischen Training zu suchen haben? Willkommen in der polnischen Realität, wo nicht nur Zeitangaben flexibel gehandhabt werden, sondern die Flexibilität das Leben bestimmt! Ich hatte schon Sehnsucht nach Improvisation!
Drei Tage vor Seminarbeginn hatte ich von den Organisatoren erfahren, dass neben den polnischen und französischen Teilnehmenden, auch die deutschen Mitarbeiter anwesend sein werden. Von den Chinesen war jedoch keine Rede gewesen. Kurz vor 9:00 Uhr frage ich also, ob ich die „unerwarteten Gäste“ aktiv einbeziehen soll? Da ich keine eindeutige Antwort bekomme, frage ich am Anfang des Seminars, ob sie lieber eine Beobachterrolle einnehmen oder aktiv teilnehmen möchten? Alle sind hochmotiviert und entscheiden sich für die zweite Alternative.
Gegen 9:15 Uhr sind schließlich alle da. Lingua franca des Trainings ist Englisch, aber die informellen Gespräche und zum Teil auch die Gruppenarbeiten führe ich auf Deutsch, Französisch und Polnisch durch, um sicherzugehen, dass erstens die Atmosphäre nett ist und zweitens alles richtig verstanden wird. Flexibilität hoch drei.
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Gegen 9.30 Uhr kommt ein Teilnehmer zu mir und fragt, ob wir pünktlich Schluss machen werden? „Ja, klar!“, versichere ich. „Ich wohne seit über zehn Jahren in Deutschland“, schiebe ich noch scherzhaft hinterher. Dann nennt er eine Uhrzeit, die zwei Stunden später als der geplante Schluss ist und geht. „Moment mal!“
Später spreche ich mit dem Projektleiter und stelle fest, dass meine Agenda von der polnischen Firma ganz an den Rhythmus des Unternehmens angepasst worden ist, ohne dass mich irgendjemand vorher informiert hat. Das Problem ist, dass ich im Anschluss noch ein Treffen habe und rechtzeitig Schluss machen musst. Daraufhin schlage ich vor, dass wir die Lunchpause nach hinten verschieben, sodass ich pünktlich weg kann. „Ich bin flexibel“, sage ich. „Aber auch meine Flexibilität hat ihre Grenzen“, denke ich insgeheim.
An diesem Tag haben wir das Training, wie geplant, um „meine Uhrzeit“ beendet. Die Teilnehmenden haben sich sogar sehr gefreut, weil sie dadurch noch ein bisschen Zeit gewonnen haben, um an ihrem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Nach der Feedbackrunde habe ich mich bei den Polen, Franzosen, Deutschen und Chinesen für ein tolles interkulturelles Training bedankt. Ich habe viel gelernt …
Autorin: Johanna Sell – Johanna Sell stammt aus Polen und ist interkulturelle Trainerin. Sie ist spezialisiert auf die interkulturelle Sensibilisierung im europäischen Raum. Darüber hinaus ist sie Autorin und gibt Vorlesungen an der Leibniz Universität in Hannover und Hildesheim.
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