Das chinesische Vitamin G

China ist eine beziehungs- und gruppenorientierte Kultur. Wichtiger als die Sache selbst, ist immer die gute Beziehung zwischen den beteiligten Personen. Zudem sieht sich der Einzelne nicht selbst als Mittelpunkt seines Handelns, sondern das Wohl der Gruppe, der er sich in erster Linie zugehörig fühlt.

Daraus folgt, dass gute, vertrauensvolle persönliche Beziehungen zu chinesischen Geschäftspartnern und das Weiterreichen von Kontakten via etablierten Netzwerken unerlässlich sind, um auf dem Markt langfristig Fuß zu fassen. Das ist für Deutsche oft schwer nachvollziehbar, da sie Berufliches und Privates strikt trennen und ihre Fokus stets auf die Sache, also ein Produkt oder eine Dienstleistung, richten. Der Deutsche denkt: „Warum sollten wir befreundet sein? Wir wollen doch Geschäfte miteinander machen!“ Der Chinese sagt jedoch: „Warum sollten wir Geschäfte machen? Wir sind ja nicht einmal befreundet!“

Gemeinsamkeiten als Basis

Der Begriff guanxi umschreibt in China ein komplexes Netzwerk aus vielschichtigen Beziehungen. Den Grundstein einer Beziehung zwischen zwei Personen bilden dabei Gemeinsamkeiten, wie die Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, der Herkunftsort, der Besuch der gleichen Schule oder Universität, frühere Arbeitgeber, aber auch gleiche Interessen, Erfahrungen und Ziele. Auch die gegenseitige Sympathie spiele eine Rolle. Alle im Leben gemachten Kontakte, die somit einen gewissen inneren Wert aufweisen, werden dauerhaft gepflegt.

Es gilt außerdem: Je höher die hierarchische Stellung eines Kontaktes ist, desto stärker wirkt das guanxi. Es ist das Ziel eines jeden Chinesen, sein Beziehungsnetzwerk stets nach oben hin auszubauen. Chinesen streben danach, ihr Ansehen und das ihrer gesamten Familie durch Kontakte zu steigern. Persönliche Beziehungen sind soziales Kapital. Mit einer hohen Anzahl an belastbaren Beziehungen kann sich der Einzelne persönlich absichern. Wer viele Beziehungen nach oben hat, kann zudem Einfluss ausüben.

Harmonie auf der persönlichen Ebene öffnet Türen

Bevor jedoch eine stabile Vertrauensbasis zwischen zwei Personen entstehen kann, bedarf es viel Zeit und gemeinsamen Aktivitäten. In unserer deutschen Geschäftskulturen ist es üblich, dem anderen nach einem relativ kurzen Kennenlernen einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, um so einen möglichst schnellen Start der gemeinsamen Geschäfte zu erreichen. In China hingegen muss immer erst eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden, und erst dann kommt es zum Vertrag bzw. dem gemeinsamen Geschäft.

Das heißt, die Beziehung entsteht erst einmal jenseits der geschäftlichen Beziehung, also mehr im privaten Bereich. Wird hier eine zwischenmenschliche Harmonie erreicht, öffnen sich langsam auch die Türen zum Business – und zu weiteren Kontakten des jeweiligen Beziehungsnetzwerkes.

Wechselseitige Verpflichtungen

Ist man einmal Mitglied eines chinesischen Netzwerkes, gilt es, die Beziehungen in alle Richtungen intensiv zu pflegen und immer weiter auszubauen. Dazu gehört auch, sich gegenseitig zu helfen und die Probleme des anderen zu lösen. Erwiesene Gefälligkeiten werden immer durch eine Gegenleistung erwidert, aber nicht unbedingt sofort und auch nicht unbedingt von der gleichen Person. Guanxi ist keine reine Zweierbeziehung, sondern es stehen immer mehrere Personen miteinander in einer Art Beziehungsgeflecht. Je mehr man von jemandem erhält, desto mehr ist man demjenigen oder auch stellvertretend dessen engeren Kontaktpersonen schuldig. Je weiter entfernt man von einer Person in seinem Guanxi-Netzwerk steht, desto niedriger ist im Allgemeinen die Bereitschaft, dieser Person einen Gefallen zu tun. Ihr jedoch auf irgendeine Weise zu helfen, ist eine Selbstverständlichkeit, insbesondere dann, wenn näherstehende Kontakte mit dieser Person enger verbunden sind.

Mit anderen Worten, guanxi beruht auf einem stetigen Geben und Nehmen, das sich über viele, viele Jahre, viele, viele Personen und auch vom beruflichen auf den privaten Bereich und umgekehrt erstreckt. Die wechselseitigen Verpflichtungen und Erwartungen zwischen Guanxi-Kontakten variieren und werden für unterschiedlichste Ziele oder Problemlösungen eingesetzt. Chinesen teilen ihre Beziehungen zudem sehr genau nach Verwandten, Freunden oder Fremden ein, um den Grad des gegenseitigen Vertrauens abschätzen zu können. Guanxi bemisst sich also auch nach der Belastbarkeit der Beziehung und der damit verbundenen Verpflichtungen. Im Laufe der Zeit intensiviert sich durch gegenseitige Gefälligkeiten auch die Abhängigkeit der Personen voneinander.

Muss man jeden Wunsch erfüllen?

Für viele Deutsche im China-Business stellt dieses Spiel von Gefallen und Gegengefallen oft eine Herausforderung dar, vor allem dann, wenn die miteinander verknüpften Leistungen in keinem direkten Verhältnis zueinander stehen.

Wenn beispielsweise der Netzwerkkontakt eine Antragstellung erfolgreich durch den chinesischen Bürokratiedschungel bringt und daraufhin eine Anstellung seines Schwagers beim deutschen Unternehmen ins Spiel bringt, reagieren Deutsche oft verwirrt. Vor allem dann, wenn ersichtlich wird, dass diese Weiterempfehlung des Schwagers nicht auf sein passendes Qualifikationsprofil zurückzuführen ist, sondern der chinesische Netzwerkpartner lediglich versucht, seinem Schwager als Teil seines Guanxi-Netzwerkes einen Gefallen zu tun bzw. eine frühere Gefälligkeit auszugleichen.

Denn wie bereits erwähnt, ist guanxi keine reine Zweierbeziehung. Oft werden Leistung und Gegenleistung nicht unmittelbar miteinander verknüpft. Es ist kein direkter Tauschhandel. Eine einmal vorgetragene Bitte jedoch auszuschlagen, wird als eine unverzeihliche Beleidigung angesehen und kann schwerwiegende Folgen haben. Nicht nur der betroffene Kontakt ist gefährdet, sondern die Zurückweisung wird sich schnell im gesamten Netzwerk herumsprechen. Es gilt daher, die Bitte um einen Gefallen niemals direkt abzuweisen, sondern entweder zu erfüllen oder aber sehr diplomatisch andere Alternativen anzubieten.


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Auf die Hilfe von Mittelsmännern setzen

Was chinesische Guanxi-Geflechte im Fluss hält, sind außerdem die Werke sogenannter Mittelsmänner. Ihre Funktion besteht darin, Personen miteinander bekannt zu machen und anschließend beide Seiten dabei zu unterstützen, ihre Vertrauensbasis weiter auszubauen und eine gemeinsame Geschäftstätigkeit in Gang zu setzen. Der Mittelsmann gehört meist zum Vertrautenkreis beider Seiten und bringt diese Schnittstelle für alle gewinnbringend ein. Er nimmt die Stimmungen beider Seiten auf und beseitigt mögliche Differenzen, indem er deutlicher auf Gemeinsamkeiten hinweist. Geschäftsbeziehungen, die über einen Mittelsmann geknüpft werden, laufen schneller an, denn die Empfehlung steht für Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit, was den neuen Kontakt im eigenen Netzwerk enger ansiedelt.

Auch bei Konflikten mit bestehenden Projektpartnern sollte man unbedingt auf einen Mittelsmann aus dem Guanxi-Netzwerk zurückgreifen, der zwischen beiden Seiten vermittelt. Guanxi basiert auf der dem Konfuzianismus innewohnenden Einstellung, dass es besser ist, einen Streit zu vermeiden oder zu schlichten, anstatt ihn z. B. vor Gericht offen auszutragen. Somit sind gute Beziehungen wichtiger als Klauseln zum Vertragsbruch, die angesichts der eher rudimentär ausgebildeten rechtlichen Institutionen in China ohnehin nur schwer durchgesetzt werden können.

Die Grenze zwischen guanxi und Korruption

Ausländische Geschäftsleute in China haben oft Schwierigkeiten, die Grenze zwischen einem guten Guanxi-Verhältnis und korruptiven Verbindungen zu erkennen, da sie – anders als ihre chinesischen Partner – nicht mit guanxi aufgewachsen sind.

Während Guanxi-Strukturen durchaus zu Korruptionszwecken missbraucht werden können, werden korrupte Mitglieder innerhalb des Netzwerkes letztlich jedoch eliminiert werden, da ihr Verhalten den grundsätzlichen Werten des guanxi entgegenstehen und das über allem stehende Wohl der Gruppe gefährden. Für Chinesen gelten aktiv genutzte Beziehungen als natürlich und selbstverständlich. Gute Kontakte sind das Ergebnis einer langen Beziehungsarbeit und daher eine wohlverdiente, wertvolle Ressource. Ihr Erwerb bringt Ansehen mit sich. Ihr Missbrauch wird durch den Verlust dieses Ansehens von der Gemeinschaft abgestraft.

Mit einer zunehmenden Etablierung des Rechtsstaates und einer aktiven Korruptionsbekämpfung durch die chinesische Regierung werden traditionelle Guanxi-Beziehungen zudem in ihre Schranken gewiesen, aber sicherlich nicht an Relevanz verlieren.

Können Ausländer überhaupt echtes guanxi aufbauen?

Als westlicher Neuankömmling erfolgreich Guanxi-Kontakte aufzubauen, setzt eine große Offenheit und eine fundamentale Bereitschaft voraus, sich an die chinesische Denk- und Handelsweise anzupassen. Es ist zudem ein zeitaufwendiges und reiseintensives Unterfangen.

Auf der anderen Seite ist es für Ausländer oft einfacher, neue geschäftliche Kontakte gezielt zu etablieren als für manche Chinesen, die viele weitere Faktoren, wie etwa ethnische Abstammung, Herkunftsort, Provinzzugehörigkeiten und bereits bestehende Netzwerkverbindungen, beachten müssen, wenn sie fremde Personen kontaktieren möchten. Gleichzeitig werden sie von diesen entsprechend kritisch unter die Lupe genommen. Dahingegen sehen es viele Chinesen als äußerst positiv an, Kontakte zu Menschen aus dem westlichen Ausland zu haben.

Mit etwas Erfahrung können Guanxi-Netzwerke für ausländische Geschäftsleute äußerst gewinnbringend sein, insbesondere dann, wenn beispielsweise einige wenige Mittelsmänner viele neue Kunden- oder Lieferbeziehungen einbringen. Die spätere Hebelfunktion eines einmal aufgebauten Netzwerkes ist nicht zu unterschätzen.

Autorin: Katrin Koll Prakoonwit – Bevor sie sich als Journalistin selbständig machte, schrieb Katrin Koll Prakoonwit Länderanalysen für die FAZ. Heute arbeitet sie für Publikationen verschiedener Beratungsunternehmen und Verlage.FrauKoll Prakoonwit lebt in Reading, Berkshire, bei London.


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